ASP – Verfallen – Folge 1: Astoria (CD-2016)

Leipzig, Hauptbahnhof: Pulsierendes Leben im Zentrum dieser schönen Stadt im stetigen Wandel. Auf dem Willy-Brandt-Platz herrscht geschäftiges Treiben zwischen Trambahnen und dem dichten Verkehr auf der Straße. Auf der Westseite des Hauptbahnhofes, zwischen Kurt-Schumacher-Straße und Gerberstraße: Ein Schandfleck. Ein prächtiges Gebäude mit zugenagelten Fenstern im Erdgeschoss, beschmiert mit Graffiti, alte Leuchtreklamen hängen von der Überdachung des Eingangsbereiches, erstrahlten seit Ewigkeiten nicht mehr. Automobile parken auf kostenpflichtigen Parkplätzen, wo einst Pagen Gepäck ins Innere des Baukörpers schafften und Chauffeure ihren wohlbetuchten Fahrgästen die Türen öffneten, bevor diese im ersten Grand Hotel der Stadt Leipzig gastierten: Dem Astoria.

Jenes Luxushotel steht seit nunmehr 20 Jahren leer, vom einstigen Glamour ist nicht viel übrig geblieben. Stattdessen beflügelt das Bauwerk die Phantasie der Autorenwelt, so auch die des deutschen Jugendbuch- und Fantasy-Schriftstellers Kay Meyer. Eine langjährige Freundschaft verbindet ihn mit Alexander F. Spreng, besser bekannt als Asp und Mastermind der gleichnamigen Gothic Novel Rock-Band. Nach dem Fremder-Zyklus und einer ausgiebigen Best-Of-Tournee zum 15-jährigen Bestehen der Band im vergangenen Jahr melden sich ASP mit neuem Material zurück.

Verfallen Folge 1: Astoria basiert auf der exklusiv im Booklet der CD abgedruckten Kurzgeschichte „Das Fleisch der Vielen“ von Kay Meyer, in welcher zwei linke Demonstranten während massiver Ausschreitungen auf dem Willy-Brandt-Platz in das verfallene Hotel Astoria flüchten und dort ihre persönliche Horrorgeschichte erleben, denn der Baukörper scheint ein Eigenleben zu haben…

Wie konnte es dazu kommen? Wir drehen die Zeit zurück ins Jahr 1919. Hier setzt das ASP-Album mit seinem Gothic Novel an. Der Protagonist der Geschichte kämpft in Berlin mit den Widrigkeiten der Nachkriegszeit. Obdachlos, ohne Hab und Gut beschließt er, die Stadt zu verlassen. Seine Entscheidung steht fest, er befindet sich an einem Kreuzweg seines Lebens. „Himmel und Hölle“ ist der bedeutungsschwere, mitreißende und rockig klingende Opener des Albums – ein klassischer Live-Song, der bei den Konzerten der „Verfallen“-Tour im Herbst 2015 entsprechend gut beim Publikum ankam und mit Sicherheit ein fester Bestandteil kommender Konzerte werden wird.


Mit dem Abspielen des Videos, akzeptierst du die Datenschutz- und Nutzungsbedingungen von YouTube.

Den Hintergrund der Entscheidung des Protagonisten erfährt der Hörer in „Machs gut, Berlin“. Melancholisch, begleitet von Piano-Klängen, führt der Protagonist ein Selbstgespräch über seine Beweggründe. Die Stadt brachte ihm kein Glück, mit neuem Namen und neuen Kleidern macht er sich auf den Weg nach Leipzig, das zu dieser Jahreszeit besonders schön sei, auf dass ihm endlich einmal die Welt zu Füßen liege.

Ein besonders gelungenes Stilmittel auf „Verfallen – Folge 1: Astoria“ sind die atmosphärisch stimmigen Zwischentöne. „Zwischentöne: Ich nenne mich Paul“ ist wohl der erste ASP-Titel mit Akkordeon-Begleitung, wird hier doch musikalisch die Zugfahrt in die neue Heimat Leipzig dargestellt. Vor dem inneren Auge des Hörers manifestiert sich unterdessen der vor Optimismus strahlende Protagonist „Paul“, wie er in der dritten Klasse des Zuges sitzt und sich ausmalt, was ihn wohl in Leipzig erwarten würde. Wird er sich in die erste Frau verlieben, die ihm begegnet? Erwartet ihn das neue Glück? Verlieben wird er sich, die erste Frau, die ihm begegnet, ist jedoch ein wunderschöner, großer und äußerst luxuriöser Bau: Das Astoria. Beim Hören der „Zwischentöne: Baukörper“ fühlt man sich durch die exzellente Beschreibung der herrschenden Stimmung mitten ins Herz Leipzigs versetzt, der Hörer sieht die Welt durch Pauls Augen. Paul indes schwebt im siebten Himmel, hat er doch nach seiner erfolgreichen Bewerbung als Hausmeister des Astoria seit langem zum ersten Mal ein Dach über dem Kopf, lebt gar im Paradies. „Begeistert (ich bin unsichtbar)“ streift er fortan schier unsichtbar durch die Gänge des Astoria. Nach den ruhigen Zwischentönen nimmt „Verfallen – Folge 1: Astoria“ wieder Fahrt auf, rockig wird die Begeisterung Pauls in seinem neuen Job zum Ausdruck gebracht. Stück für Stück verfällt er mehr dem Baukörper, nur das Hotel und er selbst scheinen ihm real, der Rest der Welt ist unwichtig und irrelevant.

Im Laufe der Zeit beginnt Paul das Hotel als Person wahrzunehmen. Astoria manifestiert sich ihm als elegante Dame. Seine Hingabe, sein Verlangen wird dem geneigten Hörer stimmungsvoll als „Zwischentöne: Lift“ serviert – dem ersten Tango aus dem Hause ASP! Endgültig verfällt Paul dem Hotel in der Rock-Ballade „Astoria verfallen“, die manch ein Festivalbesucher bereits auf dem M’Era Luna 2015 genießen konnte und – wie auf den Konzerten eindrucksvoll bewiesen wurde – durchaus zum Mitsingen animiert. Nach langer Zeit gibt es mit „Astoria verfallen“ auch wieder ein Musikvideo, oder vielmehr einen musikalischen Kurzfilm von ASP. Das darauf folgende „Souvenir, Souvenir“ verarbeitet rockig und schwungvoll die Forderungen des Hotels an den Paul, denn ein kleiner Teil der Gäste muss im Astoria verbleiben. Noch sind diese Souvenirs recht und billig, Haut und Haar, welche unfreiwillig in den Gedärmen – pardon – den Rohren des Hotels verbleiben…


Mit dem Abspielen des Videos, akzeptierst du die Datenschutz- und Nutzungsbedingungen von YouTube.

Dass Asp ein lyrisch versierter Schreiberling ist, stellte er bereits eindrucksvoll beim Schwarzen-Schmetterling-Zyklus auf „Aus der Tiefe“ bei „Im Dunklen Turm“ sowie in seinem Versnovlle „Der Fluch“ unter Beweis. Seine angenehme Erzählstimme kommt auch in „Zwischentöne: Blank“ eindrucksvoll zum Einsatz. Der Hörer wird in die Lage Pauls, in seine nächtlichen Träume von der Dame Astoria versetzt und erlebt mit, wie er immer tiefer in die Welt des Hotels eintaucht, bis er schließlich im tief im Herzen des Baukörpers angelangt ist. Dramatisch steigern sich die Zwischentöne und gehen fließend in „Dro[eh]nen aus dem rostigen Kellerherzen“ über. Pauls Angst ist regelrecht greifbar, unterstützt wird dieser Eindruck von harten Gitarrenriffs und der sich in der Dramatik steigernden Erzählstimme Asps. Der Titel mausert sich zu einem düsteren Rocksong, der die Eindrücke Pauls aus dem Keller schildert, wo im Schatten feuchtes Haar verschimmelt.

Dem rockigen Herzen des Albums folgt eine der wohl gefühlvollsten Balladen, welche Asp jemals geschrieben hat. Wüsste man nicht, dass es um die einflusreiche und herrscherische Dame Astoria ginge, könnte „Alles, nur das nicht“ als astreines Liebeslied durchgehen. Dem Verfallen und der Angst im Keller folgt die Verzweiflung. Paul würde alles für den Baukörper tun, er ist zu jedem Schritt und jeder Schandtat bereit, doch was das Astoria nun begeht, geht ihm zu weit. Denn es möchte mehr als nur die kleinen, leblos abgetrennten und entbehrlichen Souvenirs. Der letzte Rest gesunden Menschenverstandes begehrt in Paul auf, er müsste das Hotel verlassen, bringt dies aber nicht übers Herz. Doch der Druck ist zu groß…

Die Konsequenzen bekommt der Hörer in „Loreley (Die traurige Ballade der Hannelore W.)“ auf die Ohren. In bester „Varieté Obscur“-Tradition wird langsam aber beständig die Spannung aufgebaut. Die von Ally the Fiddle eingespielten Geigenklänge tragen gekonnt zur Stimmung bei. Asp spielt wieder gekonnt mit seiner Stimme, der in diesem Titel stets etwas Bedrohliches, gar Irres innewohnt, als er die Tänzerin Hannelore W. mit ihren langen blonden Haaren aus dem Blickwinkel des Protagonisten beschreibt. Zum schaurig schön und äußert bildhaft besungenen, blutigen Höhepunkt treten wieder Tangoklänge in den musikalischen Vordergrund – Gänsehaut garantiert! Der Titel könnte direkt aus einem Musical stammen und ist definitiv das Highlight des Albums.

Dramaturgisch erwartet der Hörer nun einen Ausklang der Geschichte, doch „Fortsetzung folgt?“ – denn „Verfallen – Folge 1: Astoria“ bekommt im Frühjahr 2016 eine Fortsetzung: „Verfallen – Folge 2: Fassaden“.  Rockiger hätte man den aus alten Serien bekannten Schriftzug „Fortsetzung folgt“ nicht umsetzen können. Selbstironisch bietet ASP einen Rückblick auf die eigene Discographie, der Titel an sich ist der perfekte Abschluss eines Konzertes und macht Lust auf die nächste Show und alles, was sonst noch von der Band kommen mag. Der Hörer, indes, rätselt, was wohl in „Fassaden“ passieren wird, muss doch die Lücke zwischen Pauls Goldenen 20ern und der Schließung des Astoria in den 90er Jahren überwunden werden. Die Vorab-Single „Das Kollektiv“ erscheint am 11. März 2016 in bereits ausverkaufter, limitierter Auflage von 999 Stück, das Album wird ab dem 1. April 2016 in den Regalen stehen.

Unterm Strich ist „Verfallen Folge 1: Astoria“ ein extrem ausgefeiltes Konzeptalbum, manche mögen es auch, wie damals „Zaubererbruder“, als Zwischenalbum betiteln. In jedem Fall ist ein hervorragendes Produkt aus der Zusammenarbeit von Kay Meyer und Asp herausgekommen, welches den Begriff „Gothic Novel Rock“ haargenau trifft und durchaus als Benchmark gesehen werden kann. Eine derartige musikalische Vielfalt auf einem ASP-Album fand sich zuletzt auf „Zaubererbruder“, atmosphärisch ist es ein neuer Meilenstein. Wenngleich sich ASP-Fans zunächst etwas fremd beim Hören des Albums fühlen werden, wird es sie letztlich vor Begeisterung mitreißen. Auch wer bislang nicht viel mit ASP am Hut gehabt hat, sollte einmal reinhören, vor allem, wenn man Freund von guten Gruselgeschichten ist und Stephen Kings „The Shining“ verehrt.

 

Titelliste:

  1. Himmel und Hölle (Kreuzweg)
  2. Mach’s gut, Berlin
  3. Zwischentöne: Ich nenne mich Paul
  4. Zwischentöne: Baukörper
  5. Begeistert (Ich bin unsichtbar)
  6. Zwischentöne: Lift
  7. Astoria verfallen
  8. Souvenir, Souvenir
  9. Zwischentöne: Blank
  10. Dro[eh]nen aus dem rostigen Kellerherzen
  11. Alles, nur das nicht
  12. Loreley (Die traurige Ballade der Hannelore W.)
  13. Fortsetzung folgt …?

 

Tourdaten:

  • 31. März 2016, Saarbrücken, Garage
  • 1. April 2016, Stuttgart, Im Wizemann
  • 2. April 2016, Potsdam, Lindenpark
  • 3. April 2016, Hannover, Pavillon
  • 6. April 2016, Hamburg, Markthalle
  • 7. April 2016, Wiesbaden, Schlachthof
  • 8. April 2016, Bochum, Ruhrcongress
  • 9. April 2016, Leipzig, Haus Auensee

www.aspswelten.de

Autor: Last-Apocalypse